Interview mit der Autorin

Verleger:
Schwester Arantxa, Gratulation zu dem fulminanten Erfolg Ihres Buchs! Es hat sich ja binnen kürzester Zeit sowohl in der Welt der Menschen als auch in der Welt der Insekten – ja, Sie signalisieren mir schon, ich meine natürlich Gliederfüßer – zu einem Literatur-Geheimtipp entwickelt. Was bemerken Sie in Ihrer Altersresidenz von diesem Erfolg?

Schwester Arantxa:
Vielen Dank, vielen Dank; zunächst einmal bin ich froh, dass sich an unserem gemütlichen Alltag hier im Schloss praktisch nichts geändert hat. Sehr erfreulich sind natürlich die Tantiemen, die den Wegfall der Hilfen durch das Amt um ein Vielfaches aufwiegen. Das hat uns ermöglicht, durch Aufstockung unseres erstklassigen Servicepersonals in den Genuss von noch mehr Geruhsamkeit und exquisit zubereiteten Speisen zu kommen.

Verleger:
Erhalten Sie auch RĂĽckmeldungen zu dem Buch?

Schwester Arantxa:
Ja, in der Tat hat die Veröffentlichung besonders in der literarischen Szene der Insekten für Aufsehen gesorgt.
Ich habe bereits von mehreren Literaturzirkeln wie beispielsweise dem bekannten Schäbischen Belesenen Quartett begeisterte Zuschriften erhalten. Doch das Phänomen scheint auch auf andere Tierreiche überzugreifen, unlängst hat mich ein enthusiastischer Brief der Litauer Literarischen Leseratten erreicht, der sich über die Schilderungen aus unserem Tierreicht als ›äußerst entzückt‹ zeigte.

Verleger:
Das sind ja auĂźerordentlich interessante Entwicklungen! Die Druckausgabe fĂĽr Menschen hat fĂĽr einigen Aufruhr gesorgt, in ganz Europa untersuchen Neugierige verlassene Schuppen auf Feldern, ob sich darin Ihr Altersresidenz-Schloss. AuĂźerdem wurde berichtet, dass alternativ angehauchte Enthusiasten ungenutzte Schuppen herrichten und hoffen, dass sich dort nun weitere Altersresidenzen ansiedeln. Was halten Sie davon?

Schwester Arantxa:
Nun, jeder Aufsehen erregende Erfolg bringt wohl unvorhersehbare Begleiterscheinungen mit sich; auch uns hier im Schloss wurden Berichte zugetragen, dass einige Schuppen und ähnliche Bauten, in die sich unsere wuseligen Brüder und Schwestern zurückgezogen hatten, etwas rüpelhaft durchstöbert wurden – hier bitte ich unsere zweibeinigen Erdenmitbewohner doch um etwas mehr Vor- und Nachsicht.
Unsere Residenz liegt glĂĽcklicherweise sehr abseits und ist derart unscheinbar, dass wir hier keinen Ăśbergriff befĂĽrchten.
Das gesteigerte Interesse Ihrer Artgenossen an unserem Wohlergehen begrüße ich natürlich und ich hoffe, dass die von Ihnen geschilderten Versuche nur der Anfang sind; Altersunterkünfte sind ja höchstens die Spitze des Ameisenhaufens.

Verleger:
Sie spielen sicher auf den allgemeinen Umgang der Menschen mit der Natur an – haben Sie für uns aus Ihrer Sicht geeignete Ideen und Vorschläge?

Schwester Arantxa:
Nun, es liegt ja auf der Hand, dass sich der Mensch höchst feindlich gegenüber der Natur verhält, aus der er hervorgegangen ist, und somit verhält er sich logischerweise feindlich gegenüber sich selbst – da helfen ein paar zusätzliche Altersresidenzen für uns Tierchen natürlich nichts.
Es kann doch so viel mehr getan werden durch allgemeine Wiederherstellung der Naturgesundheit! Ich meine, wenn man alleine den in der Landwirtschaft praktizierten Irrsinn hinter den unnatürlichen Monokulturen und den beschönigend Pflanzenschutzmittel genannten Lebensvernichtern betrachtet, mit denen die Menschen die Böden und damit ihre eigene Grundlage dauerhaft schwer schädigen … während doch funktionierende und im wahrsten Sinne florierende Anbaumethoden existieren, bei denen die gesamte Kraft der Natur genutzt und nichts und niemand ausgeklammert wird!
Dass man eine solche Nachhaltigkeit zum eigenen Wohle und zum Wohle aller anstreben und wiederherstellen muss, das versteht doch selbst ein Sandfloh mit einem im Vergleich zum Menschen wirklich winzigen Gehirn.

Verleger:
Da haben Sie natürlich Recht, Schwester Arantxa, da sind wir Menschen wirklich zu viel mehr Sinnvollem fähig – auch wenn es so scheint, dass nachhaltiges Handeln nicht wirklich mit der jeweiligen Größe des Gehirns korreliert …

Schwester Arantxa:
… Naja, es ist ja so, da muss ich unserem Gelehrten Nathan Nagekäfer* Recht geben, dass sich manche scheinbar höher entwickelte Spezies insgeheim nach einem früheren, besseren Entwicklungsstadium zurücksehnt … Ich meine, wir Gliederfüßer haben im Laufe der Evolution ja etliche Gattungen und Spezies, die sich verrannt hatten, aussterben sehen. Andererseits haben es manche durch Umdenken und radikale Änderung ihres Verhaltens geschafft, zu einem Weg zurückzufinden, der sie wieder in Einklang mit der Natur und somit ihrer eigenen Lebensgrundlage gebracht hat.
Und Menschen sind mir ja – sonst würden wir beide jetzt nicht hier sitzen – nicht gänzlich unsympathisch! Es würde mich persönlich also freuen, wenn immer mehr von ihnen es schaffen würden, sich wieder auf eine wirklich naturverbundene Lebensweise einzulassen, sodass allen Erdenbewohnern eine schöne Zukunft bevorsteht.

* Nathan Nagekäfer: Akademische Autorität im Reich der Gliederfüßer, siehe auch Seite 71ff des Buchs, Anm. d. Red.

Verleger:
Genau das wünsche ich uns allen auch, und ich finde Ihre Idee großartig, einen Teil der Erlöse des Buchs für nachhaltige Zwecke und weitere Aufklärung vorzusehen.

Schwester Arantxa:
Da möchte ich mich aber auch bei Ihnen bedanken, dass dies direkt umgesetzt werden konnte, insbesondere solche liebenswerten Details wie die Verwendung von nagekäferlarvenfreundlichem Papier.
Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die für Menschen vorgesehene Veröffentlichung zu einem vorsichtigeren Umgang mit uns kleinen Wesen inspiriert! Dass viele Menschen Insekten und vor allem Spinnen verabscheuen, mag ja in ein paar wenigen Fällen begründet sein, doch die meisten von uns sind – die Forschung der Menschen zeigt es ja! – nicht nur wichtig, sondern essenziell erforderlich für ein funktionierendes Ökosystem, und der Mensch muss lernen, uns zu achten.
Mit Freude habe ich vernommen, dass seit einiger Zeit sogenannte Insektenhotels in Mode gekommen sind und immer häufiger insektenfreundliche Wildblumenwiesen in Gärten wachsen dürfen. Und wenn ich mitbekomme, dass große und kleine Menschen uns nicht nachstellen, erforschen und aufspießen, sondern uns und unsere Lebensweise staunend beobachten, dann weiß ich, dass wir alle auf einem guten Weg sind. Und es gibt ja unendlich viel zu bewundern – beispielsweise die Baukünste von Bienen und Wespen, die monumentalen Ameisenkolonien, die Choreografie der Wasserläufer, die Überlebenskünste der Kakerlaken, winzigste Fluginsekten, prächtige Schmetterlinge, faszinierende Käfer, und nicht zuletzt natürlich die epochale Webkunst der Spinnen …

Verleger:
Tatsächlich berichten etliche jüngere und auch ältere Leserinnen und Leser des Buchs, dass sie die Welt der kleinen Tierchen neu für sich entdeckt haben; außerdem steht die Fachwelt der Zoologen und Entomologen Kopf!

Schwester Arantxa:
Nun ja, das soll jetzt nicht abschätzig klingen, doch haben viele Menschen, vor allem die forschende Zunft, ein in unseren Augen recht weltfremdes Selbstbild. Sie halten sich für intelligente Köpfe – und vergessen darüber die weitaus mächtigere Intelligenz der Natur! Und wenn dann bekannt wird, dass sogenannte Ungeziefer bereits seit Jahrtausenden funktionierende Gesellschafts- und Sozialstrukturen pflegen, zu denen neuerdings auch Altersresidenzen zählen, dann fühlt sich manch ein Mensch affrontiert …
Stattdessen könnte er sich doch vielmehr darüber freuen, dass er auch ohne unser Vorbild und sogar in der überschaubaren Zeit seit der Nutzbarwerdung seines Denkapparats fähig war, selbst solche grundsätzlich sinnvollen Ideen wie beispielsweise einigermaßen friedlich funktionierende Gesellschaftsstrukturen zu entwickeln.
Doch ich glaube, dass die meisten Forscher dieses Buch und die detailreichen Berichte aus unserer Altersresidenz erst einmal als Märchen abtun – genauso, wie unser bornierter Freund vom Amt es nicht wahrhaben wollte, dass es bei uns wirklich spukt. Doch, wie bekannt ist, hat die Entwicklung des Verstandes bei der Spezies Mensch erst vor etwa 40.000 Jahren begonnen, das ist ja aus Sicht der Evolution nur ein winziger Augenblick …  Ich meine, da sollten wir heute doch wahrlich noch nicht allzu viel erwarten.

Verleger:
Im Grunde teile ich Ihre Sichtweise, doch vermute ich, dass Sie sich damit bei unseren Wissenschaftlern nicht unbedingt Freunde machen …

Schwester Arantxa:
… Ach, das ist nicht von Belang. Das Wichtigste für mich ist ein geruhsames Leben auf unserem Schloss, dazu braucht es keine Wissenschaft oder irgendeine Zustimmung. Wir Wuseltierchen mit unterschiedlichster Herkunft haben unseren gemeinsamen Frieden und darin eine nie dagewesene Kraft und Lebensfreude gefunden. Wenn sich jemand etwas davon abschaut, dann freut es mich – und wenn nicht, tut das unserer Gelassenheit keinen Abbruch.

Verleger:
Schwester Arantxa, vielen Dank für das Interview und Ihre wahrlich tiefgehenden und inspirierenden Worte, ich wünsche Ihnen und Ihrer besonderen Altersresidenz weiterhin alles Gute. Es wäre wirklich schön, wenn wir Menschen uns auch nur ein kleines Stückchen Ihres Rezepts vom Lebensglück abschneiden könnten!

Schwester Arantxa:
Gern geschehen! Ja, dazu möge sich jedes Wesen eingeladen fühlen.

No responses yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert